Liebe Eltern und Angehörige,
sehr geehrter Herr Bürgermeister der Stadt Dormagen,
liebe Vertreter der Kooperationsschulen,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
lieber Herr Oberstufenleiter Rimpler,
liebe Jahrgangsstufenleiter Frau Hüllhorst und Herr Dr. Schwenzfeier-Brohm,
liebe Abiturientinnen,
liebe Abiturienten,
Es war einmal ein Mönch, der sein ganzes Leben der Suche nach nach dem Sinn und dem Verstehen gewidmet hatte. Er wollte einen Lehrer finden, der ihm helfen würde, die großen Erkenntnisse der wahren Weisen zu entdecken.
Als er von einem Lehrmeister hörte, der in einem fernen Land lebte, machte er sich auf den Weg zu ihm. Er lief Tage, Wochen und Monate, bis er endlich an einer Lichtung eine Hütte erblickte.
Er trat näher und sah, dass die Tür offen stand. Nachdem er eine ganze Weile vor der Hütte gewartet hatte, wagte er sich hinein. Drinnen stand ein kleiner Tisch mit einer Teekanne und zwei Tassen.
Der Mönch hatte großen Durst, und da er wusste, dass dieser Lehrmeister ein großzügiger Mensch war, goss er sich eine Tasse ein. Fast im selben Moment erschien der Guru in der Tür. Er war ein alter Mann mit blitzenden, freundlichen Augen. Er sah den Mönch an, sah die Tasse Tee, schüttelte den Kopf und ging wieder hinaus. Der verdutzte Mönch wartete noch eine Stunde, gab dann aber auf und suchte sich im Wald einen Platz zum Schlafen.
Am nächsten Morgen ging er noch einmal in aller Frühe zur Hütte, wo er aber wieder nur den Tisch mit der Teekanne und den Tassen vorfand. Er wartete. Als er sich gerade eine Tasse Tee eingoss, erblickte er den Lehrmeister, der wiederum den Mönch ansah, auf die Tasse Tee schaute, den Kopf schüttelte und verschwand.
Dies ging tagelang so weiter, bis der Mönch schließlich den Lehrmeister bat:
»Bitte, ich habe eine lange Reise unternommen, um dich zu treffen. Geh heute nicht wieder fort. Sei mein Lehrer.«
Der Guru blieb stehen, wandte sich um und ging zurück zum Tisch. Er nahm die Teekanne und goss Tee in die bereits volle Tasse des Mönchs. Dieser wich zurück, weil der Tee über den Rand der Tasse auf den Tisch und den Boden floss. Der Lehrmeister sagte:
»Dein Geist ist wie diese Tasse Tee. Er ist schon voll. Du musst deinen Geist erst leeren, ehe er etwas Neues aufnehmen kann.«
Vordergründig geht es hier um’s Teetrinken, eine Tasse, in die eingegossen wird, obwohl sie schon voll ist, der Tee fließt auf den Tisch, ja sogar auf den Boden - eine Alltagssituation, wenn auch eine eher ungewöhnliche. Man würde aufhören zu gießen, wenn schon der Tee auf den Tisch geflossen ist.
Doch hier geht es um mehr - es geht um Fragen unserer menschlichen Existenz, es geht um die Suche nach dem Sinn - welchem? - und die Suche nach dem Verstehen - wovon?.
Das Beschreiben, dann aber das Verstehen von Texten, Karikaturen, Bildern, Musikstücken - das war Kerngeschäft Ihrer Oberstufenarbeit. Das Deuten ebenfalls.
In Deutsch, Englisch, Pädagogik, sicher auch in Sozialwissenschaften, Religion, Philosophie ging es ganz bestimmt um Verstehen und Deuten. Aber ist das eindeutig?
Wie sehr es dem Wandel der Zeiten unterworfen ist, merkt man, wenn man einmal auf die Abituraufgaben schaut. Das Schulministerium gibt den Lehrkräften zu den einzelnen Aufgaben einen sogenannten Erwartungs–horizont vor, der das vorgesehene Verstehen und die vorgesehene Deutung definiert.
Man vergleiche einmal diese Erwartungshorizonte mit denjenigen vor 20 oder 30 Jahren, als die Lehrkräfte diese noch selber verfassten - ein weites Feld tut sich hier auf.
Verstehen und Deuten in Deutsch, Englisch, Pädagogik, Religion, Philosophie ist keine festgelegte Prozessabfolge, deren Ergebnisse vorher feststehen - es bleiben stets viele Unsicherheiten.
Deshalb befragten die alten Griechen bei schwierigen Lebensfragen das Orakel von Delphi, um klare Deutungen zu erhalten. Allerdings sprach Pythia, die weissagende Priesterin ob der Dämpfe, die aus einer Erdspalte zu ihr hervorkamen, oft so undeutlich und unklar, dass auch diese Worte wiederum von Priestern verstanden und gedeutet werden mussten. Zur Sicherheit besprengte man noch vor der Befragung eine junge Ziege mit eisigem Wasser. Blieb sie ruhig, fiel das Orakel aus und wurde um einen Monat verschoben.
In der Folgezeit ging es immer wieder darum das Bemühen, das Verstehen, das Deuten und das Auslegen, die Exegese der gesprochenen und geschriebenen Wörter in den Griff zu bekommen.
Für Platon war der Dichter derjenige, der die Botschaft der Götter vermittelt, der Rhapsode derjenige, der die Werke der Dichter interpretiert. Aber der Dichter war alles andere als klar und eindeutig.
Um diesen schwierigen Prozess des Verstehens und Deutens haben sich später viele Große bemüht, von Spinoza über Kant bis Heidegger und Gadamer, der eine eigene Hermeneutik entwickelte.
Aber wie sieht es mit Verstehen und Deuten in Physik, Chemie, Biologie aus?
Ja - auch dort sind Verstehen und Deuten unabdinglich. Die anscheinend so sicheren Naturwissenschaften sind Beschreiben, Verstehen und Deuten von Vorgängen der Natur.
Und die Mathematik?
Nun - auch die Mathematik baut auf Konstrukten auf, die wahr sein sollen, auf Axiomen. Sind sie allgemeingültig, ex cathedra, für immer? Auf den ersten Blick mag man sagen: ja - z. B.
"Jede natürliche Zahl n hat genau einen Nachfolger n+1.
Wer kann etwas dagegen sagen?
Aber…
Blickt man zurück in die Antike, da gab es auch unverrückbare Wahrheiten.
Ein Axiom war unumstößlich - das geozentrische Weltbild, es galt 1800 Jahre: die Erde ist der Mittelpunkt der Welt.
Erst im 16. und 17. Jahrhundert formulierten Kopernikus und Galilei ein neues Axiom: das heliozentrische Weltbild: die Sonne ist der Mittelpunkt, wir und die anderen Planeten kreisen um sie.
Unsere moderne Kosmologie, basierend auf Einsteins Relativitätstheorie sagt sogar, ein absolutes Zentrum des Universums lasse sich gar nicht ermitteln. Wer an den neuesten Forschungen dazu interessiert ist, der lasse sich von dem britischen Astrophysiker Stephen Hawking in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Zeit anregen. Die modernen Ergebnisse lassen einem den Atem stocken.
Aber dem Mönch, der hier auf der Suche ist, dem geht es wohl gar nicht so sehr um Verstehen und Deuten von Naturvorgängen, es geht ihm vielmehr um Verstehen und Deuten von sich selbst. Deshalb macht er sich in ein fernes Land auf und sucht einen Lehrer.
Übrigens - was für ein schönes Bild! Wir Lehrer gehen nicht mehr zu den Oberstufenschülern, sie suchen uns, auch wenn wir in fernen Ländern sind!
Verstehen und Deuten seines Lebens. Darum geht es dem Mönch. Manches Verstehen und Deuten scheint einfach zu sein. Sie erhalten gleich Ihr Abiturzeugnis. Was ist da viel zu verstehen und zu deuten?
Warum die ganzen Anstrengungen und auch Frustrationen?
Das Abitur ist das Sprungbrett für manche von Ihnen in Studium und Universität, für andere in Ausbildung und später gut bezahlte Berufe, Bundeswehr, freiwilliges soziales Jahr (FSJ), alles Sprungbretter für Familiengründung und ein glückliches Leben. Das ist leicht zu deuten - oder?
Aber - manche von Ihnen haben schon andere Erfahrungen machen müssen: eine widerborstige Krankheit, eine zerbrochene Beziehung, ein unglücklicher Unfall, ein dämlicher Zufall. Wo ist da der Sinn, wie ist das zu verstehen?
Erst letzte Woche hatten wir hier im 12. Jahrgang im Rahmen eines Projekttags zur Würdigung des Todestages unserer Namenspatronin, Bertha von Suttner, einen jungen deutschen Soldaten im Hause, 27 Jahre, also kaum älter als Sie, liebe Abiturienten, der von seinen Erfahrungen im Einsatz im Krieg in Afghanistan berichtete. Er versuchte zu verstehen, fragte nach dem Sinn des Krieges für sich.
Für Bertha von Suttner machte der Krieg keinerlei Sinn.
Wir gedachten also in der letzten Woche, am 21. Juni, des Todestages der Bertha von Suttner, der Namensgeberin unserer Schule. Sie starb am 21. Juni 1914. Wir haben auch am letzten Freitag in der Abschlussfeier für den 10. Jahrgang darauf hingewiesen.
- Bertha von Suttner war österreichische Pazifistin, Friedensforscherin, Schriftstellerin Friedensnobelpreisträgerin.
- Sie starb einen Monat vor dem Ereignis, das sie immer bekämpft hatte: dem Krieg, dem Weltkrieg, dem Ersten Weltkrieg. Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, er endete am 11. November 1918 - 17 Millionen Tote später.
- In ihrem Buch „Die Waffen nieder! hat sie viel von dem vorweggenommen, was dann eintrat.
Blicken wir uns in der Welt um, gerade jetzt, da sehen wir auch heute vielfach das genaue Gegenteil von Frieden: eben Afghanistan, Ukraine, Irak, Syrien, Palästina, Nigeria.
Ein letztes Mal zurück zur Geschichte. Also: jeder muss selber nach dem Sinn und dem Verstehen suchen. Damit sich aber meine eigenen Ideen entfalten können, brauchen sie Raum. Der Tee, den ich in eine schon volle Tasse gieße, läuft auf den Tisch und den Boden. Der frische Tee kann sich nur entfalten, wenn er Raum hat und nicht durch alten Tee behindert wird. Meine neuen Ideen verkümmern, wenn die alten ungeprüften Ideen zu stark sind. Neue Denkweisen brauchen Platz.
Es waren immer die Mutigen, die Unbequemen, die Selbstverständliches in Frage stellten und dann Neuentwicklungen einleiteten. Wir haben das eben bei dem Paradigmenwechsel der Weltbilder gesehen.
Ich habe übrigens in eurem Jahrgang einige dieser Mutigen gesehen, wie insgesamt dieser 13. Jahrgang ein Vorzeigejahrgang ist. Ihr habt alle ein reifes Verhalten gezeigt, insbesondere als es um die Vorbereitung und die letzten Tage in der Schule ging!
Die meisten von euch habe ich im 5. Jahrgang aufgenommen, und das war damals meine erste Aufnahme eines neuen 5. Jahrgangs als Schulleiter der Bertha-von-Suttner-Gesamtschule Dormagen. Es trifft sich gut, dass ich euch dann bis zum Abitur begleiten konnte, einige von euch auch im Englisch- oder Lateinunterrricht.
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, wir sprachen - und damit komme ich zum Ende meiner Ausführungen - über Sinn und Verstehen.
Das was gleich kommt, ist leicht zu verstehen.
Sie erhalten jetzt gleich das Zeugnis über die Allgemeine Hochschulreife, das Abitur, den höchsten deutschen Schulabschluss. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen der Schulleitung und des Kollegiums der Bertha-von-Suttner-Gesamtschule ganz herzlich!
Es ist die Anerkennung und Belohnung für durchweg dreizehn Jahre - teilweise - harter Arbeit, für Konzentration, Durchhaltevermögen - für langen Atem.
Genießen Sie nachher den Moment, wenn Sie auf die Bühne kommen und das Abiturzeugnis erhalten, diesen Moment gibt es nur einmal im Leben und an den - da bin ich sicher - werden Sie sich hin und wieder in späteren Jahren zurückerinnern.
Gemeint sind:
Akbas, Akif
Al Kassou, Fanar
Anton, Tom Konrad
Bachhuber, Melina
Backes, Jonas
Becker, Saskia
Buczek, Laura
Bülbül, Demet
Büsgen, Christian
Cremer, Robert
Dizman, Ahmed-Said
Dorn, Anne
Dück, Monika
Ernst, Vanessa Marian
Gellrich, Klara
Genz, Jó Gerrit
Gerlach, Jost
Gnott, Marie
Heinderichs, Tatjana
Hildebrandt, Natascha
Hilger, Ina
Hilgers, Patrick
Inderka, Jonas
John, Felix
Karakus, Can
Karbach, Philipp
Klöter, Felix
Komar, Enes
Korschefsky, Aaron
Krakowski, Laura
Kronenberg, Philip
Kundt, Rebekka
Ladermann, Janice
Lelittko, Lukas
Löbe, Miriam
Lücking, Maximilian
Maak, Gina
Mähl, Verena
Manolias, Melanie
Michalek, Maximilian
Moghadassian, Melina
Müller, Yasemin
Ortlepp, Swen
Pestinger, Mattis
Peters, Anton
Petrenko, Dmytro-Ivan
Polisi, Argjend
Richter, Jonas
Ritterbach, René
Schmale, Finja
Schmidt, Valérie
Schumacher, Lennart
Schumacher, Jennifer
Schumalla, Mirjam
Sevim, Pinar
Sorkun, Mehmet
Spahija, Rezoita
Stopar, Angela
Tasin, Cem
Tavus, Esra
Tok, Meryem
Totzke, Lisa-Marie
Weber, Gwydion
Weitz, Tobias
Wiegelmann, Philipp
Winkler, Philipp
Wirth, Christina
Ganz besonders möchte ich mich an dieser Stelle bei dem Leiter unserer Oberstufe, Herrn Rimpler, bedanken, der mit großem Einsatz und hohem Verantwortungsbewusstsein, professionell seit Jahren unsere Oberstufe leitet und Sie bei Ihrer Arbeit tatkräftig, und wie man sieht, mit Erfolg unterstützt hat.
Bedanken möchte ich mich bei den Lehrerinnen und Lehrern, die Sie, zum Teil von der Klasse 5, bis hierher begleitet haben - durch gute und schlechte Zeiten. Ohne Ihren großen Einsatz und Ihre Geduld sähe manches anders aus.
Lassen Sie mich schließen mit der Bemerkung, dass wir stolz auf Sie sind, dass Sie das Abitur bei uns erreicht haben, und ich möchte dies verbinden mit einem herzlichen Glückwunsch zum Abitur – auch an Sie, liebe Eltern.
Sie haben Ihre Kinder auf Ihrem Weg hierher begleitet.
Es ist eine schöne Tradition, dieses Ereignis - die Ausgabe der „Zeugnisse der allgemeinen Hochschulreife” mit einem festlichen Akt zu umrahmen. Wir werden Sie dazu nachher auf die Bühne bitten. Doch eins nach dem anderen.
Ich freue mich, dass dies in Gegenwart unseres Bürgermeisters ist, der sich die Zeit genommen hat, am Abiturgottesdienst und an der Abiturfeier teilzunehmen. Herzlichen Dank dafür. Das ist ein gutes Zeichen! Ich bitte ihn nun zu einem Grußwort auf die Bühne.
Ihnen, den Abiturientinnen und Abiturienten wünsche ich viel Erfolg im Leben.
Vielen Dank!
Dr. Volker Hansen
27. Juni 2014
Bürgernhaus Nievenheim